Archive für 26.6.2011

Steter Tropfen höhlt den Stein

Ich leide seltenst, mir geht’s gut. Ich habe nie gelitten, musste nie leiden. Deswegen fehlt mir die Erfahrung mit dem Leid und dem Leiden. „Leiden“ ist ohnehin stark relativ. Was für den Einen Anlass zu ausgiebigem Leiden, inklusive der optischen und akustischen Begleiterscheinungen wie Jammern, Stöhnen und Tränen, ist dem Anderen lediglich Grund zum Achselzucken.

Heute morgen wurde ich schon sehr früh wach, obwohl ich erst um halb vier ins Bett gegangen bin. Ich hatte mich irgendwie in die Decke verkeilt und konnte meine Lage aus eigener Kraft nicht verändern. Die Decke lag zu hoch an meinem Kinn und am Hals. Mein gesamtes Körpergewicht lastete auf meiner linken Schulter und brachte die Stelle zum schmerzen. Dekubitus lässt grüßen, so entstehen „Lagerschäden“. Für diejenigen unter den Mitlesenden ohne Medizinstudium oder Familienpflegefall: bei „Dekubitus“ handelt es sich um Folgeschäden durch punktuell einseitige und zu lang andauernde Belastung/Druck auf Körperstellen. Weist einige Ähnlichkeiten mit falscher Lagerung und Behandlung von zu lagernden Äpfeln auf; das Resultat ist unappetitlich! Das Fass zum Überlaufen brachte mein linkes Ohr, das abgeknickt und zusammengefaltet unter meinem Kopf lag. Alles für sich genommen, nicht so wild. In der Summe und auf Dauer dann doch. Wenn es oft genug wiederholt und lange genug ausgeführt wird, kann alles zur Folter werden! Mich machte es jedenfalls wahnsinnig. Jemanden rufen ging mangels Atemluft und wegen knochentrockenem Mund und Hals nicht, einen lang anhaltenden, kräftigen Ton brachte ich nicht hervor. So blieb mir nur zu warten, bis jemand kam und nach mir sehen würde. Das dauerte zu meiner Erleichterung jedoch nicht allzu lange und ich wurde von meinem „Leiden“ erlöst.

Ich fand noch nie Gründe, oder besser: mir blieben die Anlässe fern zum öffentlichen Leiden. Die meisten kleineren habe ich mit mir selbst „im stillen Kämmerlein“ ausgemacht. Blieb selten etwas Nennenswertes übrig; anderem ging ich vorsorglich aus dem Weg. Da hielt ich es wie der Großteil der Bevölkerung. Es wäre mir nie eingefallen, Probleme, Tragödien oder schwere Schicksale aus freien Stücken aufzusuchen. Noch immer habe ich Berührungsängste, was die Krankheiten und das Leiden anderer angeht. Offensichtliches Leiden berührt mich persönlich - die Arbeit in Pflegeberufen wär’ für mich nichts, dafür wäre ich denkbar ungeeignet!

Ich bin der Ansicht, es braucht schon ein ziemlich dickes Fell, um in einem Pflegeberuf zu arbeiten. Eine Art ‘Resistenz’ und Ignoranz gegenüber offensichtlichem Leid müssen wohl antrainiert werden. Vielleicht entstehen sie zwangsläufig, sobald Menschen durch ihre Arbeit gezwungen werden, Prioritäten zu setzen und sich entscheiden müssen, wem sie zuerst helfen und wen sie noch ein wenig länger leiden lassen! Wie auch immer - ich kenne keinen ‘normalen’ Menschen, der entspannt zusehen kann, wie ein anderer offensichtlich unter Schmerzen leidet. Oder leiden Pflegeberufler vielleicht überwiegend innerlich?! Wenn ja, wäre das ein weiterer Grund für die hohe Fluktuation und die kurze Verweildauer in Pflegeberufen…

So, meine Schulter schmerzt kaum noch, das Formel 1 Rennen in Spanien fängt bald an - und für mich hat Felix Sturm den Kampf gestern abend klar verloren!

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